Mittwoch, 29. September 2021

Der Boss

Der Boss

 

Alle im Raum wünschen sich, dass er seinen Oberkörper frei macht und über alle herfällt. Einfühlsam, stark, herrisch, wirksam. Er ist der Einzige in diesem Zimmer, der sich nicht hinter Cocktailsaucen versteckt. Die Frauen wollen mit ihm tanzen. Die Männer wollen zu ihm aufschauen. Da es keine Lösungen gibt; jedenfalls sind keine bekannt, erwartet Jede und Jeder, dass er diese Erkenntnis in sich versteckt trägt. Tief im Kern. Nur er und kein anderer, keine andere. Man müsste ihn wie eine Nuss knacken. Aus seiner Schale würde man Möbel und Häuser bauen und seinen Kern würde man digitalisieren. Die Erkenntnis sollte alle glücklich machen. Die Folge: Reichtum für alle. Sonnige Urlaube, emissionsfreie Flugzeuge, Trinkhallen ohne BürgerInnen mit Schnellficker-Beinkleid. Baubiologisch korrekt ausgerichtete Vereinsheime. Bratwurst aus Duroc und vegane Wurst aus Knallerbsen. Sandstrände aus Pulverschnee. Sandsteingebirge süß wie Zückerhüte. Überall Menschen mit Auszeichnungen und Orden, die den 1,5 Grad Plan geschafft haben.

 

Deswegen geschieht dieses furchtbare Verbrechen. Nicht weil die Menschen schlecht sind, sondern einsam und verzweifelt und verwirrt. Es passiert in einem kleinen Nebenraum auf einer intimen Betriebsfeier eines mittelständischen Betriebes. Der Herrscher dieses Kleinods, der auf Grund seiner autoritären und absolutistischen Art so geliebt wird, zieht sein Hemd eben nicht aus zum Liebesgang mit seinen paar Nächsten in diesem Raum. Alle hier wissen, diese Menschheit ist am Ende. So kann es nicht weiter gehen. Irgendeiner nimmt das Tranchiermesser, welches neben dem Burgunderbraten liegt und jagt es dem Boss in den Hals. Eine druckvolle Blut-Fontaine beschmutzt die Kleider der Damen und die Brillen und Hemden der Herren. Verzweifelt suchen nun alle Anwesenden nach der entscheidenden Information und brechen den soeben Erledigten auf. Man findet aber nur das Übliche, was man so in einem toten Körper halt findet. Vielleicht etwas mehr Adrenalin und Testosteron, welches diesem Mann eigen war.

 

Dummer Weise haben die Menschen Liebe mit Hass verwechselt. Und die vorgeschriebenen Gs hat auch keiner eingehalten. Kein Mindestabstand, keine Masken, kein Respekt, keine Liebe. Nur der unbedingte Wille eines jeden dieser Menschen, sich selbst zu retten und dafür das Menschenopfer des Despoten in Kauf zu nehmen. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden. Die Idee jenen auszuschalten, der wohl am meisten Schuld von allen trägt, dass es soviel Leid gibt, ist im Prinzip nicht die Schlechteste. Die Geschichte ist voll von Beispielen. „Auch Du mein Sohn …“ doch im Anschluss kommt es immer wieder zu der Erkenntnis, dass die Hoffnung auf das Paradies nicht mit roher Gewalt zu erfüllen ist. Blinde werden nicht sehen können, wenn man den Boss tötet. Die früher als Lahme Bezeichneten werden nicht gehen können, wenn man sich am Blutrausch beteiligt und betrinkt.

 

In einem kleinen Raum geschieht das schreckliche Alltägliche in den Köpfen der Menschen und es ändert sich nicht viel. Letzteres kann man aus einer nachvollziehbaren Perspektive aber auch als tröstlich betrachten.

 

29. September 2021