Montag, 24. Dezember 2018

Frohe Weihnachten!

Die Sonne scheint, der Schnee ist fern. Überall gibt es Markenangebote im Sonderfall. Jonathan läuft durchs schöne Alstertale, und hört Stimmen. Stimmen der Straßenhändler, der hart verhandelnden Mütter vor den Ausläden. „Huawei“ oder so ähnlich rufen sie sich zu. Irgendwann hat das Jonathan schon mal gehört. Vielleicht in der Fernsehwerbung!? Aber sie rufen gar nicht Huawei, sie rufen „Frohe Weihnachten“! Klingt ja auch so ähnlich, wenn der Nordmanntannenverkaufswinter die Vokale verschluckt.

Seit dem Jonathan alleine ist (er hat eine kleine Zelle unter einer Parzelle neben der Villa eines ehemaligen Tennisstars bezogen), kommen ihm Frauen- und Mädchen Stimmen besonders seltsam vor. Wie beim Bonbon abwiegen in der Schule, Bonbons, die sie im Unterricht gemeinsam gekocht haben. Die Bonbons zogen Fäden und verschwammen im Neonlicht des Gesamtschulzentrums pink, orange, türkis und königsblau. Eine verklebte Masse, die für einen Moment aus dem schulgrau eine bunte Welt vorgaukelte.

Eine Frau im Weihnachtsmantel mit modischer Sonnenbrille, siebenfarbigen Brillenrahmen und ohne Mantelmütze, trägt den Zopf der hanseatischen Straße. Sie reicht ihm einen Zimtlümmel als Werbegeschenk einer hier ansässigen Drogeriekette. Ihr kirschroter Mund wabert wie Gelantine, so glatt und grade wie der wunderbar gefertigte Sargdeckel Schneewittchens.

Jonathan verbringt Weihnachten mit sich und sieben Kanalienvögeln. Die hat er im Internet bestellt und die machen aus seinem kleinen Pott, also der Zelle eine kleine Wohnung mit Klangdesign. Er beschenkt sich dieses Jahr sogar selbst. Jonathan hat in einer ausschweifend umfassenden Therapie bei einem Hipsterpsych seinen Bezug zum sinnlosen Konsum wieder entdeckt. Das macht ihn jetzt glücklich. Er hat sich einen Muskeltonus-Leser bestellt und selbst geschenkt. Seine ehemalige Freundin, die Käthe, hat sowas immer für kleingeistigen Schnickschnack gehalten. Sie wollte immer größere Häuser, größere Schuhe, päpstliche Macht und eine neue Definition des Reinheitsgebotes. Letzteres war irgendwie sogar noch das Sinnvollste. Aber Massen an Biertrinkern sind gegen Käthe vorgegangen. Sie hatte überall Lokalverbot. „Manntje Manntje, Timpe Te …“

Mitten in Jonathans neuer geilen Bleibe hängt ein Boxsack. Jeden Abend kommt sein Nachbar, der gealterte Tennisstar vorbei und schnallt ihn kopfüber und im allzu kurzen Hemd an den Boxsack. Nur in dieser Position findet Jonathan seinen Schlaf. Praktisch, so kann er auch in seinem kleinen Pott ein gänsliches Federbett mit Rahmenhandlung einsparen.

Sie haben wieder Lieder auf den Lippen. Lieder, die er von früher kannte. Aus seinem Volksempfänger, Lieder die den Village Peoplen und den Comedian  Harmonists den Mund verbaten, damals noch - oder den Young Brüdern (Hells Bells). Er trinkt sein letztes Rosenwasser in diesem Jahr und lässt sich von seinem Nachbarn an seinen Schlafsack schnallen.

„Frohe Weihnachten Jonathan!“ wünscht ihm der Nachbar sanft. Doch der Jonathan ist schon eingeschlafen.


24. Dezember 2018 


Dienstag, 11. Dezember 2018

Der Wahnsinnswunsch

Der Wahnsinnswunsch

Der Dezember ist die Zeit der Wahnsinnswünsche. Z.B. der alte Menschheitswunsch sich dem Wahnsinn so zu nähern, dass man ihn nicht nur versteht, sondern auch fühlt. Dieses seidenweiche, immer kostbare Gefühl tief in den Wahnsinn einzutauchen, von ihm umhüllt zu sein und in seinem Schutz in einer westlichen Weste behütet zu sein. Denn beschützt betulich dem Wahnsinn zu verfallen, ist der Ausdruck von Wohlstand, beschreibt das Umfeld von Lebensgeschichtenluxus. Irgendwann ist das Ziel einer brauchbar geilen Vita - bling bling - wahnsinnig zu werden. Verrückt im Sinne einer Krönung. Bescheuert im Vergleich mit Nichtbescheuerten. Bekloppt in der Art eines Abziehbildes des Nutzlosen. Man möchte den Schein. Nicht etwa den Schein wahren, man möchte den Schein. Endgültig dem Krieg der nicht Schutzbefohlenen und Betreuten entfleucht.

Ab diesem Moment ist jedes gesagte Wort in einer anderen Liga. Jede Tat hat den Wert einer Erheblichkeit. Eine Erheblichkeit, welche das Unerhebliche erhebt. Dem Sinnlosen wird ein Kick gegeben und es bekommt einen Überzug aus feinster Schokolade, flüssigem Gold und dem Blut aus reinster Philosophenasche. Die Teleologie setzt das Ziel. Der Mensch entzieht sich diesem, in dem er sein Fleisch in diesem Schokoladenfonduevermächtnis neu definiert. Die Dinge selbst sind nicht der Mensch. Sondern nach Aristoteles sind Menschen „diejenigen, die entweder (a) von allen oder (b) den meisten oder (c) den Fachleuten und dabei entweder (ci) von allen oder (cii) den meisten oder (ciii) den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden.“

Wer verrückt ist, versteht das. Nein, er versteht nichts, aber er weiss alles, weil er nichts mehr wissen muss. Er fühlt sich in dunklen Räumen wohl. Er geht in Angst spazieren, wie andere durch sonnendurchflutete Parks. Er kocht aus dem Tod Knochensuppe. Er ist ein Leibeigener von Allem. Und doch steht sein Bild irgendwo erhaben auf irgendeinem Tisch. Auf einem leeren Tisch. Man kann lesen in diesem Bild. Es zeigt ein Menschengesicht. Ein Gesicht voll von Mensch. Geschichten aus Bullerbü, Kiel oder Pata Negra, Kairo oder Manchester. Geschichten aus tiefster Sinnhaftigkeit - Liebe und Hass, Leben und Überleben. Geschichten aus Sand, Wasser, Ton und Erde. Klänge zwischen Erdkern und Menschenhaut. Geschmäcker zwischen Gemüse und Fischhaut. Komplementäre von Spinat und Wachteln. Geschichten aus der Bundesliga - Regional. 

Irgendwann blickt das Gesicht nach innen. Und da wird der Wahnsinnswunsch wieder wahnsinnig nah.
Kinder werden erklären: Das Nähe das Allerschönste ist.

Kümmert euch um euch!


11. Dezember 2018


Montag, 5. März 2018

Warum man über Fotokunst nicht streiten kann


Nach dem Gefrierbrand kommt bekanntermaßen die Schneeschmelze. Dieser zarte Film, den man als Speichel auf der Zunge spürt, ähnelt diesem Prozess. Und dann sieht man sie wieder, diese kleinen Jungs, wie sie Daumen nuckelnd auf ihre Handys schauen und ihre fotografischen Ergebnisse begutachten. Grad der geschmolzene Schnee hat den Blick auf diese Knaben wieder frei gegeben. Sie hocken da, wie „Der Denker“ – die ganze Welt voller Denkerschneehauben.

Die Kunst besteht darin sich von diesen ganzen „Hauben“ nicht beeinflussen zu lassen. Sonst macht man nur noch Fotos von Schneehauben, die wie Schimmel über Knaben gewachsen sind. Wer dann keine Hauben fotografiert, sondern Dellen, Scharben, Striche und Intarsien, kann zunächst nicht verstanden werden. Kritiker werden diesen Fotografen vorwerfen, dass sie ins Klo der fotografischen Geschichte schauen. Die Fotografen, diese Künstler - die wehren ich aber und sagen: „Ich sehe in die Tiefe, während alle anderen sich nur auf konservierte Handyfotoknaben konzentrieren.“

Die Fotoknaben fühlen sich aber missbraucht. Der ganze Prozess ist ihnen zu altbackend. Auf Flohmärkten kommen sie sich vor wie Zuckerwatte aus gedanklicher Presspappe alter Männer.

Irgendwann – selbst nicht faul – bin ich auf die Idee gekommen nicht mehr diese Knaben zu fotografieren, sondern Menschen. Menschen wie sie leiben und lieben. Wie sie aus dem Uterus des Dino-Eis entschlüpfen und verschiedene Stufen ihres Daseins durchleiden. Vom „puppet on the string“ zum fleischgewordenen Handyknabenbeobachter. Ich bin auf die Idee gekommen sogar Frauen zu fotografieren: beim Fußball spielen.

„Es ist doch keine Kunst ein Spiel zu beobachten, Bier zu trinken und Lieder zu singen wie: „Ich liebe dich
Ich träum von dir
In meinen Träumen, bist du Europacup Sieger ...“und dann ein Spiel zu fotografieren!“ ... sagen die Kritiker natürlich zurecht. Denn Knaben unter Hauben wird man auf dem ganzen Ground mit Umgebung nicht finden.

Da findet man noch nicht mal einen Leut, der mit einem über Fotokunst und die Heiligkeit der Fotografie diskutieren will.

Man kann über Fotokunst nicht streiten, weil das Wort schon so maximal doof ist, wie Kunst. Man kann natürlich sagen, dass diese Schneehauben, die in der Schmelze etwas nicht mehr ganz zeitgemäßes haben, etwas gefälliger sind, als z.B. ein Sänger der sein Mikrophon schwarz weiß verschluckt, schwitzt wie ein Jazzer und sich mit Leidenschaft rausredet. Direkt aus dem Bild heraus: „Hallo ich heiße Dizzy und bin Leidenschaft – Grüß Gott – habe die Ehre!“

Aber ehrlich gesagt sind Schneehauben auch nicht mehr so schön, wenn sie geschmolzen sind und unter ihnen festgefrorene bläuliche Knaben hervorscheinen, die auch aufgetaut keinen sehr erwärmenden Eindruck machen.

Man kann natürlich dem Autor dieses Textes einige Vorwürfe machen. Z.B. diesen hier, dass er Knaben in den Vordergrund der Mainstream – Ästhetik bringt, während die armen Kerlchen ziemlich leiden. Der eine oder andere sogar mit Raute an den Nieren.

Ich kann das aber auch begründen: Mir geht diese Jugendfeindlichkeit ein wenig auf die Nerven. Andauernd wird jungen Menschen gesagt, was sie zu Tun und zu Lassen und zu Sein haben. Sie sollen z.B. Fotokunst kennen, als diese noch die Einschlüsse von Insekten als hohen Wert betrachtete und als sog. Fossilisation sozusagen die Zivilisation ersetzte. Man erwartet von jungen Menschen auf derartige geschichtliche Hintergründe der Fotografie wie aus der Pistole geschossen ein „ja normal – wie geil ist das denn!“

awfull – stupid – funny!

Wenn ich durch Hamburgs Stadtteile gehe,  dann sind die Knaben und die Hauben alle verschwunden.

Man kann über Fotokunst nicht streiten.






5. März 2018